Stadttauben: Geächtet, getreten und von einem 16-jährigen gerettet
Es ist eiskalt und dunkelgrau an diesem Novembertag in Dortmund. In einer dreckigen Ecke am Gebäude des Hauptbahnhofs liegt eine Taube. Aufgeplustert, mit klaffender Wunde am Köpfchen. Unzählige Fußpaare von gehetzten Pendlern strömen achtlos an ihr vorbei. In Zeitlupe schleicht sich ein Junge im Teenageralter an. Er holt aus und lässt einen langstieligen Kescher auf die Taube heruntersausen. Das gefangene Tier schlägt vor Schreck und Angst panisch mit den Flügeln.
Diese Taube hatten großes Glück. Denn sie landeten bei Luis Schulte aus Nordrhein-Westfalen und wurden von ihm gesund gepflegt. Der Schüler blickt schon auf eine ellenlange Liste an geretteten Tieren zurück. „Ich habe meinen ersten 15 Tieren Namen gegeben. Aber dann habe ich aufgegeben.“
In Deutschland leben geschätzt 500 Millionen Stadttauben. Sie werden in der Öffentlichkeit überwiegend als Problem wahrgenommen. Doch es sind die Vögel, die leiden – und Schuld daran ist, wie so oft, der Mensch.
So fing es bei Luis an
Gerade mal 10 Jahre alt war Luis Schulte, als er auf Youtube ein Video einer Taubenorganisation entdeckte. Darauf zu sehen: Ehrenamtliche, die verletzte Tiere einfingen und verschnürte Taubenfüße von Haaren, Wollfäden und Nylonschnüren befreiten. Für ihn war sofort klar: Auch er will den Stadttauben helfen.
Auf der Straße gelandet
Stadttauben sind verwilderte Haustiere und nisten in felsenartigen Häusernischen. Sie stammen von entflogenen, ausgesetzten oder verirrten Rasse- und Brieftauben ab. Der Mensch hat den Tauben eine hohe Brutaktivität angezüchtet, da sie auch als Eier- und Fleischlieferanten genutzt wurden.
Heute tragen in Deutschland rund 30.000 Brieftaubenzüchter zusätzlich zum Problem bei. Jedes Jahr nämlich stranden erschöpfte Wettkampf-Brieftauben in den Städten und verpaaren sich mit den schon ansässigen Artgenossen. Auch Hochzeitstauben, die nicht mehr nach Hause finden, vergrößern die Population. Noch mehr Tiere, noch mehr Leid, noch mehr zu tun für die ehrenamtlichen Helfer.
Jeden Morgen um 5.30 Uhr klingelt der Wecker und reißt Luis aus dem Schlaf. Er ist sofort hellwach, springt raus aus dem Bett, versorgt die Tauben in seinem kleinen Schlag sowie Pflegetiere und macht sich für die Schule fertig. Nach dem Unterricht und Lernpensum kümmert der Teenager sich um Notfälle, berät Hilfesuchende und plant Tierarzttermine.
Luis engagiert sich sieben Tage die Woche in der Organisation „Aktiv für Tiere – Tauben- und Wasservogelhilfe. Ein Zusammenschluss Ehrenamtlicher, die sich für das Tierwohl einsetzen. Auf ihren regelmäßigen Rundgängen finden sie nach kürzester Zeit Tiere, die verletzt, geschwächt oder noch viel zu klein sind, um auf der Straße zu überleben.
„Füttern Sie die kranken Viecher etwa?“
Satte Tauben bleiben die meiste Zeit des Tages an ihrem Platz. Der Hunger treibt sie aber in Scharen auf die Gehsteige und Plätze, verzweifelt auf der Suche nach irgendwas Fressbarem. Jeder Brotkrumen zählt, jede Pommes dient als Kropffüller. Selbst Mageninhalte nach einer durchzechten Nacht müssen herhalten. Für einen Körnerfresser ist das ein schwer verdaulicher, krankmachender Brocken. Im besten Fall treffen die Tauben auf mitfühlende Menschen, die heimlich Körner spenden.
„Letzte Woche habe ich gesehen, wie zwei Jungtiere im „Backwerk“ in Dortmund, tatsächlich in den Laden reingestürmt sind, und versucht haben sich Krümel, die vom Tablett runtergefallen sind zu krallen. Die Beiden habe ich natürlich eingesammelt, die könne sich jetzt erstmal aufpowern und danach bekommen sie eine betreute Futterstelle.“
Betreutes Wohnen statt Betteln: Das Augsburger Stadttaubenkonzept
Augsburg macht vor, wie Mensch und Tier in friedlicher Co-Existenz miteinander leben. Die Stadt betreibt 10 Schläge und 2 Taubentürme. Ehrenamtliche Helfer versorgen die Vögel mit argerechtem Futter, entsorgen Kot und tauschen die Eier gegen Gips-Attrappen aus. Wunderbar für die Augsburger Tauben, die einen der raren Plätze in Beschlag nehmen konnten. Prima für Augsburg: Die Taubenpopulation verringert sich genauso wie der Taubendreck auf den Gebäuden und Straßen. Immer mehr Städte orientieren sich mittlerweile an dem Konzept oder lassen sich inspirieren.
Vorteile von Taubenschlägen
- die Tauben halten sich die meiste Zeit des Tages im Schlag auf
- setzen dort auch den größten Teil des Kots ab (pro Taube/pro Jahr: ca. 10 kg Nasskot)
- die umliegenden Häuser und Fassaden werden von großen Kotmengen verschont
- ausreichende und artgerechte Fütterung
- die Tiere müssen nicht auf Futtersuche gehen und sind gesünder
- der Eieraustausch sorgt für eine Geburtenkontrolle
- die Betreuung eines Schlags kostet weniger als die Vergrämungsmaßnahmen und Säuberungen der Gebäude
Die Realität sieht für die überwiegende Anzahl der gefiederten Stadtbewohner allerdings anders aus. Nämlich bitter.
Mit Spikes & Co. gegen Tauben
Sie sind spitz, sie sind lang: Spikes sollen die Vögel am Landen und Nisten auf Hausdächern, Simsen und Balkonen hindern. Augrund fehlender Nistplätze und der Standortreue versuchen die Tiere dennoch zu ihren angestammten Plätzen zurückzukehren. So passiert es häufig , dass eine Taube sich an den Spikes schwer verletzt oder regelrecht aufspießt wird.
Eine andere, auch von Privatleuten eingesetzte Maßnahme zur Taubenabwehr ist der Einsatz von Netzen. Sind diese aber unsachgemäß oder schlampig angebracht, verwandeln sie sich eine Falle. Immer wieder finden Taubenschützer verhedderte oder eingesperrte Vögel. Manchmal kann nur noch die Feuerwehr die gefiederten Gefangenen befreien.
„Wenn man das Leid, das draußen herrscht, beobachtet und den Umgang der Menschen mit den Tieren, dann wird aus einem Hobby eine Lebensaufgabe.“
Mit Hingabe betreut Luis seinen kleinen Schlag. Einige Tauben bleiben auf Lebenszeit, weil ihnen ein Fuß fehlt, sie nicht mehr fliegen können oder fast blind sind.
Die Liste mit Verletzungen durch Unfälle und Vergrämungen sowie Krankheiten durch falsche Ernährung ist lang. Umso schöner, wenn ein Tier gesund gepäppelt wieder in die Freiheit entlassen werden kann.
Freunde fürs Leben: Gismo, Melija, Maggy, Bubbles und natürlich Luis
Tauben sind sehr intelligent. Selbst nach nur einer Körnergabe erkennen sie wohlmeindende Personen und heften sich beim nächsten Zusammentreffen voller Hoffnung an die Fersen. Und manchmal hält das geknüpfte Band ein Vogelleben lang.
Die wohl zutraulichste Taube aller Zeiten
„Maggy weicht mir nicht von der Seite. Wenn ich aus der Schule komme, sitzt die Maggy direkt auf meiner Schulter und begrüßt mich herzlich. Man kann sogar mit ihr zusammen duschen gehen. Und wenn man am Tisch sitzt und Pommes isst, schnappt sie sich eine, obwohl Taubenfutter da steht.“
„Immer, wenn ich meine Tiere sehe, in meinen Schlag gehe oder draußen meine Pflegetiere wiedererkenne, denke ich mir: Das Kämpfen hat sich gelohnt“.
Quellen:
https://www.augsburg.de/umwelt-soziales/umwelt/umweltstadt-augsburg/stadttaubenkonzept
https://www.bussgeldkatalog.org/tauben-fuettern/
Beitragsbild:
Harrison Haines/Pexels
Anmerkung:
Diese Reportage entstand im Rahmen einer Weiterbildung: Online Journalismus & Storytelling an der Wildner Akademie.